25.04.2016

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Skulptur des Monats: Märchenkunst

„Er probierte und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.“
Der goldene Schlüssel (1815), Jacob und Wilhelm Grimm

Wenige Zeilen, gerade mal eine halbe Seite, füllt das Märchen der Gebrüder Grimm vom Goldenen Schlüssel, in dem ein Junge zur Winterszeit einen Schlüssel und ein eisernes Kästchen mitten im Schnee findet. Was wohl darin sein mag, fragt sich nicht nur der Junge, sondern auch der Leser, doch erfahren wird er es nicht; die Erzählung endet und hinterlässt eine Leerstelle frei zur Interpretation. Wenn die Aufgabe nun ist, die Geschichte als Kunst im öffentlichen Raum zu visualisieren, besteht die Herausforderung darin, aus geschriebenem Wort ein Bild zu schaffen und das Charakteristische eines Textes – seine Zeitlichkeit und Narration – in den simultanen Eindruck eines Bildes zu übersetzen.


Der goldene Schlüssel von Ralf Ehmann befindet sich in Hanau an der Ecke Kölnische Straße/Am Markt. Foto: Künstler

Genau dieser Aufgabe widmete sich der Künstler und Bildhauer Ralf Ehmann, als er für den Hanauer Märchenpfad seine Skulptur zum Märchen vom Goldenen Schlüssel entworfen hat. Im Frühjahr 2015 rief die Stadt Hanau im Rahmen eines bundesweiten Wettbewerbs dazu auf, Entwürfe zu einem oder mehreren von zehn ausgewählten Märchen der Gebrüder Grimm einzureichen. Eine Fachjury entschied über die besten zehn visualisierten Ideen, darunter die Skizze von Ralf Ehmann, die schließlich am 19. April 2016 an der Kölnischen Straße in Hanau der Öffentlichkeit als vollendete Skulptur präsentiert wurde. Ehmann war einer von 73 deutschen Künstlern, die zusammen etwa 170 Entwürfe zum Wettbewerb einreichten. Anlass dazu bildete der Wunsch der Hanauer Bürger, Kunst im öffentlichen Raum in der Geburtstag der Grimms umzusetzen. Die Geburtstage der Brüder im Februar und April, die sich zum über 220. Mal jähren, wurden als Rahmen für die Vorstellung der fertigen Skulpturen erklärt. Seit Beginn dieses Jahres veröffentlichen die ausgewählten Künstler zusammen mit der Stadt jeden Monat ihre Arbeiten. Sponsoren übernahmen die Kosten für die Skulpturen und jeweils einen Sockel.

Das etwa 1,20 Meter hohe, auf einem Sockel angebrachte Werk zeigt den Jungen des Märchens mit dem gefundenen Kästchen in den Händen, er hält es auf der Höhe seines Kopfes, an ihm selbst lehnt der Schlüssel in überdimensionierter Größe. Vorgaben, wie die Skulptur auszusehen hätte, gab es keine. Allein der Text bot die Grundlage und enthielt in seiner Knappheit nur eine begrenzte Anzahl an Elementen, die das Märchen durchweg bestimmen. Für Ehmann war daher klar, dass der Schlüssel eine zentrale Rolle in der Skulptur spielen müsste, um den Wiedererkennungswert des Märchens in der Skulptur zu garantieren. „Ich glaube, es ist wichtig, die Märchen erkennbar zu machen, auf Details zu achten, die eine Bedeutung tragen. So rückt man Elemente ins Auge des Betrachters“, erklärt Ehmann. Der Schlüssel und das Kästchen sind die Attribute des Märchens wie für Schneewittchen der Apfel. Doch wie die Elemente in der Figur zum Tragen kommen, hängt von der interpretatorischen Auffassung des Künstlers ab. Eingrenzen würde ein Text als Grundlage für die bildhauerische Arbeit daher nicht, so Ehmann. Vielmehr erweitere sie den künstlerischen Prozess und gewähre neue Einblicke. „Am Anfang dachte ich noch ‚Na ja, Märchen, funktioniert es überhaupt, hierfür eine Skulptur zu machen und das umzusetzen. Aber gerade beim Goldenen Schlüssel fand ich es dann sehr schön, weil es so kurz ist und inhaltlich natürlich sehr interpretierbar. Sie können da viel hineindeuten.“

Der Text bot die inhaltliche Basis, die Skizze und das darauf folgende Modell aus Gips die formale. Das Material, das Ehmann schließlich für die Skulptur verwendete, war Marmor. Er zeichnete mit Grafitstift auf dem Stein vor, stimmte die Proportionen nach seinen Vorstellungen ab und begann dann damit, die Arbeit mit Hammer und Meißel rauszuschlagen. Skulpturen für den öffentlichen Raum zu schaffen sei für Ehmann als Künstler sehr spannend, gerade auch, weil das Werk der individuellen Wahrnehmung der Passanten ausgesetzt ist, die allesamt  ihre eigenen Wahrheiten zu dem Werk herstellten. In diesem Sinne kommt die Skulptur dem Wesen des Textes vom Goldenen Schlüssel, seinem interpretatorischem Potenzial, sehr nahe: Auch hier bleibt jedem Leser eigens überlassen, wie er die wenigen angebotenen Elemente deutet, wie er die Geschichte aufgreift, die nicht nur kurz ist, sondern deren Ende auch unvollständig bleibt.

Erfahren Sie hier mehr zum Künstler und seiner Arbeit.

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